Vor einiger Zeit machten Schlagzeilen zu einer neuen Studie [1] über Erythrit die Runde. Zahlreiche Onlinezeitschriften und Blogger, deren Autoren mit ziemlicher Sicherheit die Studie nicht einmal gelesen haben, verteilten Clickbait-Headlines über das gesamte Internet. Sogar CNN und die Tagesschau waren mit an Bord. Alle waren sich einig, „Erythrit macht Herzinfarkt“ oder „Erythrit lässt dein Blut verklumpen“. Was schlimm klingt, verbreitet sich immer am besten. Echte Wissenschaft – leider nicht.
Doch was ist tatsächlich dran? Erhöht Erythrit das Risiko für Herzerkrankungen? Spoiler: Natürlich nicht.
Wir haben die Studie für euch analysiert und erklären euch, warum die Erkenntnisse der Forscher keinerlei Hinweise auf eine gesundheitsschädigende Wirkung von Erythritkonsum liefern.
Wer keine Lust oder keine Zeit für alle Einzelheiten hat, hier vorweg das zusammengefasste Fazit unserer Analyse:
Wir haben hier einen klassischen Fall von „Korrelation ist nicht gleich Kausalität“.
Der Zusammenhang, dass man bei bestimmten Krankheitsbildern eine erhöhte Erythritkonzentration im Blut findet, ist keineswegs neu [2] – die aktuelle Studie hat diese früheren Ergebnisse nur nochmals bestätigt. Das sagt aber nichts über einen kausalen Zusammenhang (etwa: „mehr Erythrit führt zu mehr krank“) aus, nur über eine Korrelation. Je mehr von dem einen man findet, desto mehr findet man auch von dem anderen. Wichtig zu wissen: Erythrit wird vom menschlichen Körper über den Pentosephosphatweg selbst hergestellt – und das völlig unabhängig davon, ob man Erythrit über die Nahrung aufnimmt, oder nicht.
Wenn man also auf einen kausalen Zusammenhang schließen möchte, dann wäre eher der umgekehrte Zusammenhang, nämlich dass bestimmte Krankheiten die erhöhte Erythritkonzentration auslösen, zu vermuten. In der Studie wurde nämlich die orale Aufnahme, also wieviel und ob überhaupt (!), die untersuchten Personen Erythrit konsumierten, gar nicht untersucht. Sämtliche Aussagen in diese Richtung sind also reine Spekulation.
Jetzt die ausführliche Analyse:
Die Studie lässt sich grob in 4 Themen unterteilen, die von den Forschern untersucht wurden:
- Untersuchung eines korrelativen Zusammenhangs zwischen Gesundheitszustand („MACE“ = auf deutsch „schwerwiegende unerwünschte kardiovaskuläre Ereignisse“) und der Plasmaerythritkonzentration von bereits kranken Probanden
- Einfluss der Erythritkonzentration im Blut nach dem Konsum von Erythrit bei gesunden Probanden
- In-vitro Untersuchung von Thrombozyten in verschiedenen Erythritlösungen (aka zwei Substanzen im Labor in einer Petrischale miteinander verrühren und gucken was passiert).
- Untersuchung der Thrombozytenfunktion in einem Modell sowie an einer verletzten Mausartherie unter dem Einfluss von hohen Erythritdosen.
Im Folgenden schauen wir uns jedes Thema genauer an:
Für die Korrelationsstudie wurde der Gesundheitszustand von 4139 Personen über 3 Jahre beobachtet. Zu Beginn der Studie wurde einmal die Erythritkonzentration im Blut gemessen. Die untersuchten Personen hatten einen durchschnittlichen BMI von an die 30 (waren also übergewichtig), fast ein Viertel der Gruppe war bereits Diabetiker, zwei Drittel litten an Bluthochdruck und fast die Hälfte hatte bereits mindestens einen Herzinfarkt hinter sich.
Bei der Auswertung der Erythritkonzentration fand man, dass bei den Personen mit den schlimmsten Krankheitsbildern am meisten Erythrit im Blut gefunden wurde. Doch – wieviel Erythrit hatten diese Personen konsumiert? Nobody knows.
Die Ernährungsgewohnheiten, etwa ob überhaupt und wieviel Erythrit verzehrt wurde, ist nämlich leider gar nicht erfasst worden. Dieser Punkt ist extrem wichtig!
Jetzt könnte man dennoch voreilig schlussfolgern, dass die kränksten Personen „vermutlich“ am meisten Erythrit konsumiert haben und DESHALB kränker waren, dass Erythrit also diese Krankheiten verursacht oder verschlimmert hat. Oder man liest die Studie aufmerksam und stellt fest, dass die Forscher selbst darauf hinweisen, dass Erythrit auch endogen, also vom Körper, hergestellt werden kann. Und zwar umso mehr, je schlechter die Insulinsensitivität und je höher der Blutzuckerspiegel ist. Sprich: Bei Diabetes Typ II oder Prä-Diabetes kann der Zucker aus der Nahrung schlechter verwertet werden, also wird er in andere Stoffwechselendprodukte umgebaut – z.B. in Erythrit.
Dieser Zusammenhang ist übrigens schon sehr, sehr lange bekannt.[2]
Aber es wird noch schöner. Die Forscher liefern mit einem weiteren Experiment auch noch sehr gute Beweise dafür, dass die Erythritkonzentration im Blut der kränksten Personen mit Sicherheit NICHT aus exogener Quelle (also Erythritkonsum durch die Nahrung) stammen kann: sie verabreichten 8 Personen ein mit 30 g Erythrit gesüßtes Getränk und fanden schon kurz darauf eine Erythritkonzentration in deren Blut, die über 1000fach höher war als die höchsten gemessenen Werte bei der kranken „MACE-Gruppe“. Selbst Tage später waren die Werte noch über 100fach erhöht. Anhand dieser gravierenden Unterschiede wird klar: die endogene, also vom Körper hergestellte, Erythritmenge ist völlig unabhängig von der exogenen, also über die Nahrung zugeführte Erythritmenge.
Um die Studie „abzurunden“ folgten noch eine Reihe Laborversuche. So untersuchten die Forscher die Aktivität von Thrombozyten in verschieden hoch konzentrierten Erythritlösungen im Reagenzglas („in vitro“), in einem Labormodell und an einer Maus mit verletzter Artherie. Die Ergebnisse zeigten eine erhöhte Thrombozytenaktivität mit steigender Erythritkonzentration. Also doch der Nachweis einer Kausalität? Weit gefehlt.
Zum einen gelten Mäuse als denkbar ungeeignetes Modell für kardiovaskuläre Erkrankungen beim Menschen, da ihre Lipidbiologie wesentliche Unterschiede zur menschlichen aufweist. Im Gegensatz zu Menschen entwickeln Mäuse so gut wie nie eine koronare Herzkrankheit. In-vitro-Experimente sind oft noch unzuverlässiger als Modelle, da ihnen der Kontext eines gesamten Organismus fehlt. Zudem spiegelt thrombozytenreiches Plasma nicht die normale Blutplättchenkonzentration im menschlichen Blut wider. Daher waren die Forscher nicht nur gezwungen, ungewöhnlich hohe Konzentrationen von Erythrit zu verwenden, um überhaupt eine Wirkung auf die Thrombozytenaggregation zu erzielen, sondern auch ungewöhnlich hohe Konzentrationen an Blutplättchen. Unterm Strich ist die Aussagekraft dieser Versuche also – gleich null.
Was sagt die neue Erythrit-Studie also letztlich aus? Nichts neues!
Wie bei den meisten Beobachtungsstudien zeigt auch diese Studie keinerlei Kausalität auf.
Die Forscher versuchen hier einen Zusammenhang zu konstruieren, den ihre eigenen Daten gar nicht liefern können. Die Tatsache, dass unser Körper Erythrit als Ergebnis metabolischer Prozesse produziert, zeigt eindeutig, dass wir hier einen multifaktoriellen Zusammenhang haben, bei dem scheinbar zusammenhängende Variablen durch eine andere, unbekannte Variable beeinflusst werden. Die Aktivität des Pentosephosphatwegs – und somit die endogene, körpereigene Produktion von Erythrit – erhöht sich als Reaktion auf oxidativen Stress, Entzündungen, Diabetes, Fettleibigkeit und viele andere systemische und metabolische Störungen, die ebenfalls das kardiovaskuläre Risiko beeinflussen. Es ist wahrscheinlich, dass die Atherosklerose selbst die Produktion von Erythrit aufgrund der entzündlichen Natur dieser Krankheit steigert. Anders ausgedrückt ist das zirkulierende Erythrit eine Kovariable unzähliger anderer Faktoren mit bereits lange bekannten Verbindungen zum kardiovaskulären Risiko und könnte lediglich ein Indikator für den allgemeinen Stoffwechselzustand sein, ohne eine ursächliche Rolle in der Krankheitsentstehung zu spielen.
Wie gesund ist Erythrit?
Die Sicherheit von Erythrit als Süßungsmittel wurde bereits in den 90iger Jahren durch die WHO und seit 2001 auch von der FDA bestätigt. Zahlreiche, und auch neuere Studien [3][4][5] bestätigen dies wieder und wieder. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es nicht eine einzige valide Studie, die einen negativen Einfluss nachweisen konnte. Im Gegenteil: immer mehr Studien zeigen, dass Erythrit nicht nur eine neutrale, sondern sogar sehr positive Wirkung auf unseren Gesundheit zeigt. Es wird vermutet, dass Erythrit als Antioxidant eine gefäßschützende Wirkung haben könnte. Somit wäre es naheliegend, dass die erhöhte endogene Erythritproduktion eine Art Schutzmechanismus des Körpers sein könnte, um die negativen Auswirkungen von zu hohen Blutzuckerwerten abzumildern.
Noch ein paar Worte zum Schluss
Wir haben die aktuelle Forschung zu den für uns relevanten Themen dauernd im Blick und können euch versichern, dass uns diese Studie inhaltlich keinerlei Bauchschmerzen bereitet hat. Aber absolut bedenklich ist in dem Zusammenhang, was letztlich in den Medien daraus gemacht wurde – nämlich eine reißerische Story, die falscher nicht sein könnte. Also bitte, lasst euch keine Panik machen!
Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es für uns also keinen Grund, an der Sicherheit von Erythrit als gesundem Zuckerersatz zu zweifeln.
[1] Witkowski, Marco, et al. “The artificial sweetener erythritol and cardiovascular event risk.” Nature Medicine (2023): 1-9.
[2] Menni, Christina, et al. “Biomarkers for type 2 diabetes and impaired fasting glucose using a nontargeted metabolomics approach.” Diabetes. 2013 Dec;62(12):4270-6.
[3] Teysseire, Fabienne, et al. “Metabolic Effects and Safety Aspects of Acute D-allulose and Erythritol Administration in Healthy Subjects.” Nutrients 15.2 (2023): 458.
[4] Mazi, Tagreed A., and Kimber L. Stanhope. “Erythritol: An In-Depth Discussion of Its Potential to Be a Beneficial Dietary Component.” Nutrients 15.1 (2023): 204.
[5] Boesten, Daniëlle MPHJ, et al. “Health effects of erythritol.” Nutrafoods 14 (2015): 3-9.